„Breaking Bad“: Ein Nachruf auf den Drogenbaron Walter White - WELT (2024)

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Er hat seinen großen Abgang bekommen. 10,3 Millionen Amerikaner haben Walter Whites Abschied aus dem Fernsehen am Sonntagabend ihrer Zeit auf dem US-Kabelkanal AMC gesehen, es waren so viele Zuschauer wie noch nie zuvor bei einer Folge der Serie „Breaking Bad“. Als Tony Soprano am 10. Juni 2007 seinen Fernsehtod starb (oder vielleicht auch nicht, darüber diskutieren Serienexegeten bis heute), der vor Walter White böseste gute Mann des Fernsehens, waren es ein wenig mehr Zuschauer in den USA, 11,9 Millionen guckten beim Bezahlsender HBO zu.

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Doch da musste man ja wirklich noch vorm Fernseher sitzen und außerhalb Amerikas auf die DVD-Veröffentlichung warten, fürs Streamen und Herunterladen von Fernsehfolgen war das Internet noch zu langsam und die weltweite Aufregung um US-Qualitätsserien noch zu klein. Und so haben nun mutmaßlich viele, sehr viel Millionen mehr rund um den Globus auf mehr oder weniger legalem Wege seit Sonntag im Internet die letzte Episode von „Breaking Bad“ geschaut.

Niemand muss mehr, niemand will mehr aufs heimische Fernsehen warten, bis das irgendwann eine amerikanische Serie synchronisieren lässt und tatsächlich ausstrahlt (der deutsche Bezahlsender AXN indes zeigte die letzte Folge von „Breaking Bad“ am gestrigen Dienstag bereits in der Originalfassung).

Rache, Genugtuung oder Gerechtigkeit?

Ob Walter Whites Abgang auch ein wirklich guter war, eine Sternstunde des Serienerzählens, denn nichts anderes erwartet man von „Breaking Bad“ und dessen Erfinder Vince Gilligan: Das ist eine ganz andere Frage. Eine dramaturgische und eine moralische. Denn was soll mit einem Mann am Ende geschehen, der fünf Staffeln lang nichts unversucht gelassen hat, um in die Fernsehgeschichte einzugehen als der böseste Böse, die Gefahr schlechthin, ein direkt und indirekt für unzählige Tote verantwortlicher Drogenproduzent? Schreien all seine Opfer nicht nach Strafe, nach Rache, nach Genugtuung oder wenigstens Gerechtigkeit?

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Doch einen Gott gab es in der Welt von „Breaking Bad“ nicht mehr, bloß noch einen Teufel, Walter White höchstselbst. Der hätte eine irdische Instanz, die über ihn und seine Taten zu Gericht hätte sitzen können, nicht mehr akzeptiert. Für so was Kleines, Kleingeistiges wird man doch nicht zum Monster. Nicht er, Walter White, der einst brave Chemielehrer und dann krebskranke Drogenbaron, der das reinste Crystal Meth kochen konnte, das ultimative Produkt, kristallklar und wunderschön hellblau und auf die Dauer garantiert tödlich.

Und doch: Eine irdische Instanz gibt es für jeden Serienhelden, auch einen derart unmenschlichen Antihelden, die Zuschauererwartung. Nach all den Stunden über Stunden, die man mit Walter White verbracht hat, kann er nicht so einfach gehen. „Felina“, so der Titel der letzten Folge, die Vince Gilligan selbst geschrieben und inszeniert hat, ist nicht umsonst ein Anagramm auf das Wort „Finale“. Es sollte eine Art Meta-Finale über die Kunst nicht nur des Serienerzählens werden, sondern auch des Serienbeendens.

Klar war nur, wie er nicht sterben würde

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Gilligan hat dafür die bisher gewohnten dramaturgischen Regeln von „Breaking Bad“ aufgegeben, die besagten, dass niemals das Erwartbare geschah wie bei weniger bedeutenden Serien: nämlich das Unwahrscheinliche, schlimmstenfalls der größte anzunehmende Zufall. Weil die Autoren minderer Serien anders all die Handlungsfäden nicht mehr entwirrt und all die Figurenkonstellationen nicht mehr aufgelöst bekamen für ein schlimmstenfalls auch noch schales, weil gutes Ende nach klassischem Hollywoodfilmmuster.

Das Erwartbare bei „Breaking Bad“ war, dass das Unfassbare passierte, das moralisch Verwerflichste, und dass die Logik dahinter sich im Nachhinein jedoch stets als bestechend erwies. „Breaking Bad“ war die Serie, bei der niemals gepfuscht wurde. Dass Walter White sterben musste, war klar. Alles andere wäre unangemessen gewesen, unwürdig für eine solch überlebensgroße Figur.

Auch das Wie war relativ klar, oder jedenfalls das Wie-nicht: Der schwer krebskranke Walter White würde nicht auf der Krankenstation eines Gefängnisses verrecken oder in seinem zwischenzeitlichen Zufluchtsort, einer einsamen Hütte im verschneiten New Hampshire, Tausende Kilometer entfernt von seiner Heimatstadt Albuquerque und seiner geliebten Familie; er würde auch nicht in einer Todeszelle durchhalten bis zum Tage seiner Hinrichtung, diese extremste Genugtuung der amerikanischen Rechtsprechung würde er weder dem Staat noch den Hinterbliebenen seiner Opfer zugestehen; er würde sich im Zweifel aber auch nicht selbst richten, denn mit einer Selbsttötung würde er doch sein schöpferisches Werk entwerten, den Aufbau des perfekten Drogenimperiums, eines Konzerngiganten der Schattenwirtschaft.

Wie man seinen Nachlass regelt

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Die eigentlich entscheidende Frage war, was alles Vince Gilligan seiner Schöpfung Walter White vorm Tod noch zugestehen würde. Darf so jemand seine Angelegenheiten noch regeln und seinen Nachlass, darf er die offenen Rechnungen noch begleichen, darf der Böse noch etwas gutmachen, darf er sich verabschieden von denen, die er geliebt hat und für die er all das Böse doch angeblich überhaupt nur getan hat, wie er es immer wieder vor sich und seiner Ehefrau Skyler rechtfertigte?

Er durfte, Gilligan ließ ihn. So umfassend und mitunter unwahrscheinlich, dass es dem bisherigen Serienverlauf beinahe hohnsprach. Zum Beispiel so: Absurderweise unentdeckt von der Polizeiarmada, die ihn zuletzt verfolgte, konnte sich Walter White in die Küche des neuen Hauses seiner Familie schleichen und sich von seiner Frau verabschieden.

Doch diese Szene wird fortan als eine der größten der Fernsehgeschichte gelten dürfen, denn endlich konnte Walter White die wahren Motive für seine Taten gestehen: „Ich mochte es. Ich war gut darin. Und ich war wirklich … Ich war lebendig.“ Dann strich er seiner kleinen, im Kinderzimmer schlafenden Tochter ein letztes Mal über den Kopf und trat hinaus ins Licht. Seinem großen Sohn, der ihn bloß noch hasste, konnte er nur aus der Ferne und von diesem unbemerkt Lebewohl sagen. Dann ging Walter White los, um ein letztes Mal zu töten. Und um selbst zu sterben.

Er ruhet in Frieden

Gilligan hat mit dieser Szene und den noch folgenden letzten Bildern den Zuschauern von „Breaking Bad“ ein zweifelhaftes Geschenk gemacht. Das Gute in Walter White, von dem sie stets vermuten durften oder vielleicht nur unbedingt wollten, dass es noch da war, wenn auch in verschwindend geringen Mengen und aus rein selbstsüchtigen Gründen, denn Walter White wollte böse sein aus den besten Gründen: Das Gute in ihm hat am Ende gesiegt.

Walter White hat getan, was ein Mann tun muss: Er hat seine Familie finanziell versorgt hinterlassen (ohne dass die jemals wissen wird, dass das Geld von ihm stammt und damit blutbefleckt ist); er hat seine letzten übrig gebliebenen Feinde niedergestreckt (auf eine so unwahrscheinliche Weise, dass man sich an die dämliche Handwerker-Actionserie „MacGyver“ erinnert fühlte); er hat seinem Ziehsohn und Komplizen Jesse Pinkman, der zuletzt nur noch die bemitleidenswerteste unter den vielen Geiseln von Walter Whites Menschenmanipulationen war, die Freiheit geschenkt (Jesses Jubelschrei ließ einen immerhin als Zuschauer kurz mitjubeln); und Walter White hat sich, größter anzunehmender Zufall, einen Querschläger aus seiner eigenen Waffe eingefangen.

Er starb an dem Ort, an dem er immer am lebendigsten war. Weil er dort die eine Tätigkeit ausüben konnte, in der er am besten war und die er am meisten mochte. Walter White starb in einem Crystal-Meth-Labor, auf dem Rücken liegend zwischen silberglänzenden Apparaturen, in denen der allmähliche Drogentod zusammengekocht wird. Er hatte ein Lächeln im Gesicht, seine toten Augen starrten in den Himmel, und dort hinauf schoss dann auch die Kamera, in den Himmel. Die Hölle muss ohne den größten Teufel auskommen, der je auf Gottes Erden in einer Fernsehserie für die Ewigkeit wandelte. Walter White, der am 20. Januar 2008 das Licht der Fernsehwelt erblickte, hat uns nach fünfeinhalb Serienjahren und 62 Folgen am 29. September 2013 verlassen. Er ruhet in Frieden.

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